Wer bin ich, wenn ich würfle? Teil 1
Weißt du, was ein Murder-Hobo (Hobo = umgangssprachlich: Obdachloser) ist? So werden abschätzig die typischen Helden einer Pen and Paper Fantasy-Rollenspielrunde bezeichnet. Sie haben keinen festen Wohnsitz, leben quasi auf der Straße oder in Tavernen und hinterlassen auf ihren Streifzügen meist mehr kollateral Schäden als das Team von Cobra 11. Sie schleppen gewaltige Mengen an Reichtümern durch die Gegend, überschütten damit die Märkte kleinerer Siedlungen und zerstören so die Ökonomie ganzer Königreiche. Die von ihnen hinterlassenen Leichenberge ragen hoch in den Himmel empor und lokale Gesetze gelten eh nur dann, wenn sie zum eigenen Vorteil auslegt werden können. Mit diesen kurzen Sätzen habe ich einen Großteil der Rollenspielgruppen da draußen perfekt beschrieben (und auch die Helden der meisten Computer-Rollenspiele). Frei nach dem Motto „Keine Konsequenzen – kein Problem“ ziehen diese Abenteurer munter weitermordend durch die Welt.
Aber wieso verwandelt sich der liebe Hans-Peter (38), Versicherungskaufmann, am Spieltisch plötzlich in Hansirus-Peterson, den fürchterlichen Barbar, der lieber erst mit der Breitaxt zuschlägt und dann die Fragen stellt? Wer sind wir eigentlich, wenn wir würfeln und warum haben unsere Charaktere meistens kein Gewissen? In dieser Beitragsreihe möchte ich einen Blick auf die ethischen Motive von SCs werfen – der erste Teil erwartet euch. (Achtung: kann Spuren von Küchen-Philosophie enthalten!)
Zuerst sollten wir kurz über den Begriff Ethik sprechen. Sie ist der Teilbereich der Philosophie, der sich mit den Voraussetzungen und der Bewertung des menschlichen Handelns befasst. Der römische Philosoph Cicero definierte die Ethik zudem als Moralphilosophie. Man kann also sagen, dass die Ethik sich so mit all dem befasst, was wir so treiben und wieso es dazu kam, dass wir es getrieben haben. Unter den philosophischen Disziplinen ist sie die strenge Mutter, die dir erst einen Vortrag hält und sich dann fragt, was sie nur falsch gemacht habe.
Aber lass uns die Sache mal ein bisschen praktischer angehen: Kevin spielt mit seinen 3 Murder-Hobo-Freunden eine Runde Dungeons & Dragons. In einer Stadt treffen sie auf einen NPC, an dessen Gürtel ein besonders cooles Katana +3 baumelt. Der NPC ist eigentlich ein netter Typ – aufstrebendes Mitglied der Stadtwache, Vater von zwei kleinen Kindern und fürsorglicher Ehemann – aber trotzdem juckt es Kevin beim Anblick des Katanas jedesmal in den Fingern und bald darauf fällt der Satz: „Können wir ihn nicht einfach töten und das Schwert nehmen?“.
Natürlich wissen wir, dass Kevin ein Arsch ist, aber in seinem Real Life ist er ja auch kein soziopathischer Mörder, der seinen Sitznachbarn in der U-Bahn absticht, nur weil ihm seine Sneaker gefallen. Was treibt ihn also zu dieser Handlung? Moment … was ist überhaupt eine Handlung?
Der in der Ethik wichtige Begriff der Handlung, wird als die von einer Person verursachten Veränderung des Zustands der Welt beschrieben. Ihnen kann eine vorausgehende Absicht zugrunde liegen (geplante Handlung) und/oder die Freiwilligkeit der handelnden Personen (auch spontane Handlungen möglich). Eine Handlung ist dann freiwillig, wenn sie mit vollem Wissen und Willen durchgeführt wurde. Die Unwissenheit kann die Freiwilligkeit aber nur dann aushebeln, wenn die handelnde Person auf Grundlage des ihr fehlenden Wissens anders gehandelt hätte. Kann man jedoch davon ausgehen, dass sich der Handelnde der betreffenden Norm oder den Folgen seiner Handlung bewusst gewesen ist, so ist er als schuldig zu erachten.
Weiß Kevin, dass es falsch ist, den armen NPC zu töten, nur um an sein Schwert heranzukommen? Jap! Wird er die Stadtwache dennoch abmurksen, um sich das super tolle Katana +3 zu schnappen? Darauf kannst du einen lassen! Da er das Thema bereits in der Gruppe angeschnitten hat, kann man davon ausgehen, dass seiner Handlung eine Absicht zu Grunde liegt und da er aus vollem Wissen der Normen und Folgen gehandelt hat, war seine Handlung definitiv freiwilliger Natur.
Wieso hat er also freiwillig die Absicht, den armen Mann zu töten? Ganz klar, um sich selbst zu bereichern. Egal wie optimistisch oder pessimistisch dein Weltbild sein mag, du wirst auch gemerkt haben, dass jeder Mensch, wenn auch nur tief in seinem Herzen, irgendwie egoistisch ist. Normalerweise werden wir aber durch ein striktes Raster aus Normen und Gesetzen in unserem egoistischen Handeln beschränkt. Die Folgen von Kevins Handlung wären auf der einen Seite, dass er das Schwert bekommen würde (motivierende Folge, Belohnung), auf der anderen Seite wären aber die Kinder der Stadtwache Halbwaisen und würden wahrscheinlich elendig in Armut verhungern (in Kauf genommene Folge). Eine in Kauf genommene Folge ist nicht das Ziel der Handlung, aber ein Nebeneffekt der motivierenden Folgen und wird ganz bewusst zugelassen.
Doch wieso ist Kevin nur so gierig? Er strebt einfach nach dem höchsten Gut der Menschen (oder Zwergen, Elfen, Orks, … wenn man eben in einem Fantasy.Universum unterwegs ist). Als höchstes Gut wird das bezeichnet, was dem menschlichem Wesen zu vollends entspricht und grundsätzlich gut für jeden Mensch ist. Thomas Hobbes (man bemerke die Ähnlichkeit mit dem Wort Murder-Hobo) definierte die Bedürfnisbefriedigung als das höchste Gut. Also ist Kevin wohl einfach nur ein Anhänger der hobbesschen Phiosophie oder? Nein, Kevin ist immer noch ein Arsch!
Seine Handlung ist offensichtlich nicht gut. Doch durch was ist eigentlich dieses Gut und Böse? Bei einer Dungeons & Dragons Charaktererstellung wurde ich aus ein paar erstaunt und leicht enttäuschten Augen angeblickt, als ich mitteilte, dass Evil-Alignments nicht erlaubt sind. Wieso wollen wir manchmal einfach böse sein? Antworten auf diese spannende Fragen und vieles mehr, bekommst du in den nächsten Artikeln der Reihe „Wer bin ich, wenn ich würfle?“.
Ich hoffe, dir hat mein kleiner, leicht unbeholfener philosophischer Exkurs gefallen. Hat auf jeden Fall Spaß gemacht, sich mit dem Thema zu befassen, da es über das übliche „Spielleiter machen das, Spieler machen das“ hinausgeht. Die Reihe wird nicht wöchentlich fortgesetzt, sondern immer dann, wenn mich die philophische Lust packt und ich mal wieder über Normen und Werte Monolog halten will. Natürlich bin ich auf dem Gebiet kein Experte und möchte auch nicht den Eindruck erwecken. Es ist meine Meinung und die wird man ja wohl noch äußern dürfen 😉
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Quest in Peace, liebe Abenteurer!